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Alt 18.09.2004, 11:51
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Lorien Lorien ist offline
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Lorien befindet sich auf einem aufstrebenden Ast
teil zwei der kritik:

Die Analogie zur Kreuzigung Jesus ist aus dieser Szene nicht wegzudenken: Die „Dornenkrone“ (Verkabelung), das „Kreuz“ (die Leinwand), die „Mörder“ des „freien Willens“ (Staat und Ärzte) – eine extreme Provokation, die jedoch einen realen Hintergrund hat. Denn so abscheulich das ist, was Alex und seine Bande getan haben: die „Mörder“ des „freien Willens“, der Widerstandsfähigkeit praktizieren nichts anderes, als aus einem Menschen eine funktionierende Maschine zu kreieren, einen disziplinierten Mechanismus, wie ihn „die Gesellschaft“ vermeintlich braucht. „Die Gewalt“ erweist sich – wie man einzelne Akte der Gewalt auch beurteilen mag – als zentrales, ja konstituierendes Moment von Gesellschaft. Sie entstammt nicht Menschen, die sich außerhalb ihrer gestellt haben, sondern ihr selbst.

Existieren die Polizei, die Staatsmacht nur, weil die Gewalt besteht? Oder umgekehrt? Keines von beiden. „Verbrecher“ und „Staatsmacht“ sind zwei Seiten einer Medaille. In „2001: A Space Odyssey“ gibt es eine ganz ähnliche Analogie, als einer der ersten Menschen gezeigt wird, wie er einen größeren Knochen aus einem Skelett aufhebt, ihn zunächst auf und ab bewegt, dann damit auf den Boden schlägt und entdeckt, dass er mit der Wucht dieses, seines verlängerten Arms töten kann, erst Tiere, dann auch Menschen. Das ist die Geburtsstunde der Waffe, vor allem aber der Gewalt als sozialer Erscheinung. Wenig später schmeißt er den Knochen in die Luft, Kubrick wechselt die Szene und zeigt – Tausende Jahre später – ein Raumschiff – der moderne verlängerte Arm der Gewalt. Die erfolgreiche Mutation eines gewalttätigen jungen Mannes zum willenlosen, blutarmen Werkzeug verschafft ihm jedoch keine Ruhe. Zwei seiner Freunde sind ebenfalls mutiert: zu Polizisten, die ihn zusammenschlagen, fast ertränken.

Ein Gegenentwurf zur christlichen Heilslehre? Vielleicht, aber nicht nur. „A Clockwork Orange“ ist in meinen Augen vor allem ein kritischer Wurf gegen die Folgen und Bedingungen der Aufklärung, gegen das, was man auch „Sozialdisziplinierung“ nennen könnte, gegen das von Foucault beschriebene „Gefängnis“, die von Norbert Elias analysierte Einzwängung der emotionalen Bedürfnisse in das zivilisatorische Korsett und die schleichende Disziplinierung, gegen das allumfassende Bewerten, „Schubladisieren“, Einordnen, Interpretieren.

Der Historiker Gerhard Oestreich, der sich mit den Folgen sozialdisziplinierender Prozesse beschäftigte, zitierte in einem seiner Aufsätze den Anarchisten Proudhon: „Proudhon hat in einem Satz die Gesamtwirkung [von Sozialdisziplinierung] in der Sicht eines Anarchisten beschrieben: ‘Regiert sein, das heißt unter polizeilicher Überwachung stehen, inspiziert, spioniert, dirigiert, mit Gesetzen überschüttet, reglementiert, eingepfercht, belehrt, bepredigt, kontrolliert, eingeschätzt, zensiert, kommandiert zu werden [...], bei jeder Handlung, bei jedem Geschäft, bei jeder Bewegung notiert, registriert, erfasst, gestempelt, vermessen, bewertet, versteuert, patentiert, lizenziert, autorisiert, befürwortet, ermahnt, verhindert, reformiert, ausgerichtet, bestraft zu werden.’ Das sind die negativen Resultate, mit denen wir auch heute noch nicht fertiggeworden sind« (1).

Kubricks Film erscheint wie eine satirische, bitterböse Farce über diesen Prozess, zu einer Zeit, als sich Menschen aufmachten, die Schrecken der Vergangenheit aus ihrer Verdrängung zu treiben, sich aber gleichzeitig neuen (alten) Ideologien über den „neuen Menschen“ verschrieben. Einem der Opfer von Alex, dem Schriftsteller Alexander, steht die Wut, der Hass im Gesicht geschrieben, als er Alex aufpäppelt. Alexander ist Gegner der Ludovico-Technik, aber als er erkennt, dass Alex der Peiniger seiner Frau ist, steigt auch in ihm die Bereitschaft zur Gewalt. Der Fortschritt und das fortschrittliche Denken verkehren sich in die Bereitschaft zum Mord, von der Alexander nur deshalb keinen Gebrauch macht, weil der Innenminister sein erklärter Gegner ist.

„A Clockwork Orange“ ist nach 30 Jahren ein für mich noch immer aktueller, sehr gegenwärtiger und gegenwartsbezogener Film. Das, was man mit dem Begriff „Diktatur“ umschrieben hat, ergießt sich heutzutage nicht mehr so sehr aus den inszenierten Gesten eines „Führers“ und dem schlachtenden Hinlangen seiner Adjutanten und Helfershelfer; sie ist subtiler geworden, schleichender, unmerklicher. Sie diszipliniert uns, ohne das wir es unbedingt bemerken. Sie überzieht uns mit einer Normalität, die wir uns oft empörend weigern auch nur ansatzweise in Frage zu stellen.


tja der film hat mich echt beeindruckt
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